GEISTLICHER CHOR

Den Geistlichen Chor leiten in der KHG Köln

Den Geistlichen Chor leiten in der KHG Köln

(verfasst 2007/2008)

Sommer 2000. Mit meiner Familie sitze ich wieder mal an einem der weitläufigen Strände der Normandie. Herrliches Wetter, herrlicher, großer Sandstrand, riesige Flächen, zwischendurch auch Areale mit Steinen oder Felsen, aber Sand satt. Genug Platz für jeden, nicht das Handtuch-an-Handtuch-Gedränge, wie man es von einigen Nordsee- oder mediterranen Stränden kennt.

Viele andere Familien mit Kindern. Die Kinder – alle in action! Die kleineren Kids spielen in den Prielen, planschen dort mit ihren Schwimmärmchen oder tappsen herum mit ihren kleinen Sonnenhütchen, Schüppen, Eimerchen, Gießkannen und Förmchen. Größere Kinder bauen unermüdlich Staudämme und schaffen neue Seen, Hafenbecken und Kaimauern für ihre Spielzeug-Schiffe und ‑boote. Andere Kinder, ausgerüstet mit Keschern und Eimern, sammeln mit unglaublicher Ausdauer (von der ihre Pädagogen nur träumen können) Muscheln, Krebse oder versuchen die kleinen Jungfische einzufangen, die in blitzenden Schwärmen durch die warmen Priele flitzen. Wieder andere Kinder und Erwachsene lassen in einiger Entfernung bunte Drachen in allen Variationen steigen oder vollführen mit ihren knatternden Lenkdrachen atemberaubende virtuose Flugmanöver. Erwachsene spielen Volleyball oder Boule, Frisbee-Scheiben fliegen hin und her, andere titschen sich geschickt mit rundgeformten Holzschlägern kleine Gummibälle zu. Aber keiner kommt hier dem anderen ins Gehege: genug Platz für alle! Und viele viele Erwachsene, mit oder ohne Kinder, sitzen einfach nur da auf ihren Handtüchern und Bastmatten unter Schirmen oder im Schatten der Sonnensegel und genießen die Sonne und die herrliche Luft, cremen sich ein, essen Eis, füllen ihre Becher mit kalten Getränke aus den mitgebrachten Kühlboxen, lesen in Büchern, Zeitschriften oder Zeitungen, hören Musik aus ihren MP3-Playern – oder liegen einfach nur da mit geschlossenen Augen, schlafend oder dösend.

„Papa, komm spielen. Hilf uns! Lass uns was bauen, bitte...“

Gut. Nix mit Rumdösen und Nichtstun. Ist ohnehin nicht mein Ding. Wir suchen uns einen geeigneten Bauplatz, und gemeinsam nehmen wir Bauabschnitt 1 in Angriff, der immer derselbe ist bei Sandprojekten, ob man nun eine Burganlage mit kompliziertem Tunnelsystem bauen, ein großes Insekt nachbilden oder irgendeine andere Sandskulptur erschaffen will: Es gilt zunächst, einen großen Sandhaufen aufzuhäufeln. Michelangelo hat bei der Betrachtung eines Marmorblockes das Kunstwerk in vollendeter Form vor sich gesehen, noch bevor er einen Finger rührte. „Die Statue ist bereits im Marmorblock, bevor ich den Meißel zum ersten Mal ansetze. Sie ist da, ich brauche nur das überflüssige Gestein wegzuschlagen.“

Wir Beach-Michelangelos aber wissen nicht, was am Ende aus unserem Sandklotz entstehen wird. Und den großen Sandberg am Anfang aufzutürmen ist immer Kärrnerarbeit; es kann schon mal sein, dass einige Kinder bei dieser Vorarbeit bereits die Lust verlieren. Und so setzt sich eines meiner Kinder, der kleine Laurenz, wie einst Erasmus mitten auf den Berg – und gibt mir von dort fachkundige Anweisungen, wie und wo ich weiterschaufeln soll. Auf diese Weise entsteht rund um Laurenz langsam, aber sicher ein halbrunder Krater, in dessen Mitte Laurenz sich wohlzufühlen scheint: Er beginnt, seine Förmchen in die Innenwände zu pressen und immer wieder neu anzuordnen.

„Ich habe eine Idee“, sage ich, als ich Laurenz in diesem Krater sitzen sehe: „Kommt, wir bauen ein Auto, ein richtiges, großes Auto aus Sand.“

„Au ja, Papa, klasse, das machen wir!“

Ein natürlicher Effekt bei diesen Bauprojekten am Strand ist: Je größer ein Objekt wird und je mehr Form es annimmt, desto mehr Interesse erweckt dieses Bauvorhaben bei anderen Kindern. Sie kommen hinzu, machen einfach mit oder stellen Fragen – natürlich querbeet durch alle Landesprachen, was aber gar kein Problem darstellt. Sandbauprojekte sind vollkommen international, und verblüffend ist auch, dass ein solches Vorhaben Kinder aller Altersgruppen vereint, Kinder von vier bis vierzehn arbeiten hier zusammen, in einer konstruktiven Eintracht, von der ihre Eltern sonst nur träumen können. Denn schon bald haben alle mithelfenden Kinder am Umriss des Sandberges mit dem Krater darin und an den von Benny mit einem Stöckchen im Sand gezogenen Linien erkannt, dass wir hier ein Auto bauen wollen, ein Cabrio natürlich, mit runden, weit geschwungenen Kotflügeln, großer runder Motorhaube, so wie der alte VW-Käfer oder das berühmte Donald-Auto, dahinter die Kraterausbuchtung mit Laurenz, der noch nicht weiß, dass er im Innenraum eines Oldtimers sitzt, im Innenraum mit Fahrersitz und Beifahrersitz.

Später muss auch eine Rückbank her: Das Ganze wird weitaus größer als ursprünglich geplant (ich wäre mit einem Zweisitzer durchaus zufrieden gewesen), aber die Zahl der beteiligten Kinder hat sich mittlerweile stark erhöht, sodass ich – trotz mittlerweile deutlich spürbarer Oberarmmuskelverhärtung – zur Schaufel greife, die ergonomisch für Vierjährige sicher ideal konstruiert ist, und das Heck mit Rückbank und dem Kofferraum noch ausdehne. Bauchmuskeln melden sich jetzt, die ich bis dahin gar nicht kannte.

Will man glatte, aber relativ steil abfallende Sandwände (im Innenraum und bei den Kotflügeln außen) bauen, muss der Sand immer wieder festgeklopft und auch möglichst nass verarbeitet werden: Unermüdlich laufen einige Kinder mit Eimerchen zu den Prielen und bringen Wasser. Ich lobe jeden, bedanke mich artig, sporne an: Gemeinsam schuften wir wie verrückt in der Sonne. Manchmal, wenn auch nur selten, kommen Kinder, die das Ziel des Bauvorhabens in dieser noch relativ abstrakten Form nicht erkennen können, und wollen mit ihren Schaufeln bereits fertige Teile einfach nur niederreißen – hier muss man jedoch pädagogisch gar nicht eingreifen, regelt sich alles von selbst: Die bauenden Kinder schreien diese mehr destruktiv gesinnten Kids kurz und heftig an – oder deren Eltern kommen eilig herbei und nehmen die Kinder weg, weil es ihnen megapeinlich ist, dass ausgerechnet ihr Kind jetzt nicht mitzieht, wo es doch einen Montessori-Kindergarten und/oder eine Waldorfschule besucht hat, seinen Namen sogar tanzen kann und von Anbeginn seiner Existenz an soziales Verhalten schon in der anthroposophischen Krabbelgruppe eingeimpft bekam.

Das große Donald-Oldtimer-Cabrio mit seinen geschwungenen Jugendstil-Formen nimmt immer mehr Gestalt an – und immer mehr Menschen, die den Strand entlang wandern, bleiben stehen und bewundern das Werk der vielen Kinder, die begeistert mittun.

Andere Kinder kommen und bestaunen ebenfalls das werdende Auto – schließen sich jedoch nicht an, sondern beginnen in einiger Entfernung mit eigenen Sandprojekten, die meisten wollen nun auch ein Auto bauen. Auf diese Weise entstehen hier, auf diesem Areal des Normandiestrandes, eine Reihe von Fahrzeugen, wobei jedoch das Gros dieser Wagen im Rohbau oder bereits am Reißbrett enden, zum einen, weil die Kinder durch die aufbrechenden Eltern daran gehindert werden, ihr Werk zu vollenden, zum anderen, weil die Kinder die Lust verlieren oder die Grüppchen zu klein sind, um die benötigten irrsinnigen Sandmengen zu bewegen. Schließlich sind wir ja schon einige Stunden mit unserem Auto beschäftigt.

Ich hole die Tasche mit den Förmchen und unserem ganzen Strandspielzeug, die wir jedes Mal mitschleppen, wenn’s morgens an den Strand geht. So, wie es Laurenz mir anfangs vorgemacht hat, presse ich nun die Förmchen in den harten, glattgeklopften Sand. Die Kinder begreifen sofort, und schon bin ich den Job los: Hier, das sind die Scheinwerfer, hier die Rückleuchten und die Blinker. Ein kleiner Junge befestigt zwei größere Förmchen so, dass sie wie Außenspiegel abstehen von der Karosserie. Nicht schlecht!

Und nun: die Armaturen! Im Nu ist rund um den Fahrersitz eine Fülle an Schaltern und Instrumenten angebracht, die ausgiebig gedrückt und betätigt werden. Der Anzahl der Schalter und Kontrollinstrumente nach zu schätzen muss unser Auto mit einer Irrsinnselektronik ausgerüstet sein, mindestens vier Navigationssysteme. Benedikt baut seinen Lena-Schaufelbagger so im Fußraum ein, dass das Baggermaul zum Gaspedal wird. Und unsere große rote alte Frisbeescheibe dient natürlich als Lenkrad. Gleich mehrere Gießkannenköpfe und –hälse stellen Gangschaltung oder Handbremse oder den Auslösehebel für den Schleudersitz dar. Die Ausstattung unseres Autos kann virtuell auf jeden Fall mithalten mit den Bond-Wagen aus Q’s Werkstatt.

Anna beginnt damit, die Motorhaube mit einem Muschelmuster zu verzieren. Andere tun es ihr nach und fertigen Zierleisten aus Muschellinien, der Kofferraum hinten erhält sogar ein richtiges Nummernschild aus Muschelzahlen und Muschelbuchstaben.

Jetzt kommen nach und nach die Eltern der Kinder herbei. Sie haben unser Treiben von ferne beobachtet, wollen jetzt aber doch genau wissen, wo sich ihr Kind seit Stunden aufhält. Zum einen sind sie dankbar, dass der dicke Deutsche mit seiner Fritz-Walter-Gedächtnis-Badehose ihnen die Blagen ein paar Stunden vom Hals gehalten hat, aber andererseits wird ihnen das langsam auch ein bisschen unheimlich: Man kann ja nie wissen … Erst drücken sie sich in einigem Abstand herum, als wären sie nur ganz zufällig da, schließlich kommen sie näher, und jetzt werden auch die ersten Kameras gezückt. Einige schauen mich fragend an und deuten auf ihren Fotoapparat: Darf ich? Ich muss lachen. Als hätte ich an unserem Sandprojekt die Urheberrechte! Ich nicke und winke sie mit einer einladenden Geste heran. Die Auslöser klicken, jedes Kind will natürlich jetzt auf dem Fahrersitz oder zumindest vorne sitzen. In weiser Voraussicht habe ich das Lenkrad, die Frisbeescheibe, in der Mitte platziert, sodass man sich hier prima abwechseln kann.

Die Kinder im voll besetzten Sandauto produzieren Motorengeräusche in allen Varianten und wiegen sich synchron in perfekter Choreographie nach links oder rechts, als ob das Auto mit großer Geschwindigkeit enge Kurven durchfährt – alle haben einen Heidenspaß.

Irgendwann brennt die Sonne so heiß, dass die Kinder sich nach und nach zurückziehen. Außerdem haben jetzt alle nach der langen Schufterei Hunger und Durst. Sie gehen zu ihren Eltern und lassen sich dort versorgen – und auch neu eincremen.

Benny, unser Ältester, hat sich den Sonnenschirm geholt und ihn mitten ins Auto in den Sand gepiekt. Und sitzt hier nun wie Lotto-King-Karl, trinkt mit Strohhalm aus einem Fruchsaft-Trinktütchen, knabbert an einer Bifi und blättert in einer Computerzeitschrift.

Am frühen Nachmittag werden erste Reparaturarbeiten fällig. Die Seitenwände müssen ausgebessert werden, da sie durch das häufige Ein- und Aussteigen in Mitleidenschaft gezogen wurden.

Das ist der Zeitpunkt, wo am Strand immer ein gewisser Publikumswechsel sich vollzieht. Die ersten Leute packen ihre Siebensachen ein und rüsten sich zum Aufbruch, ihre Kinder, die morgens mitgebaut haben, kommen und verabschieden sich. Andere, neue Familien rücken nach, breiten ihre Sachen aus; und deren Kinder kommen natürlich jetzt auch, um sich das Sandauto anzusehen und dann daran mitzubauen.

Hinter einem der größeren Sandberge, einem unvollendet gebliebenen Sandprojekt, das auch mal ein Auto oder eine Burg werden sollte, haben sich einige Kids hingehockt und blicken herüber. Ein kleiner Junge mit dunklem, krausem Haar hat sich ein wenig höher über den Sandberg gestreckt, beobachtet uns unablässig, dreht seinen Kopf immer wieder halb in Richtung zu seinen geduckten Gefährten hinter sich und erstattet ihnen offenbar Bericht, wobei er beim Sprechen die Hand schützend vor seinen Mund hält, so, als teile er ihnen hochbrisante Geheimnisse mit. Eines der älteren Kinder in unserem Auto winkt ihnen zu und ruft in sattem Schwäbisch:  Kommt doch rüber und macht mit und setzt euch in unser Auto! Aber der Junge mit dem krausen Haar und seine Kumpels ducken sich sofort hinter ihrem Sandhaufen, um nach einer Weile vorsichtig hervorzulugen und dann wieder zu uns herüberzustarren.

Benedikt, Anna und Laurenz und die anderen Kinder, die mitgebaut haben und noch da sind, machen es sich abwechselnd vor und nach ihren Schwimmausflügen oder Lenkdrachenflugkunststücken auf ihren Handtüchern unterm Sonnenschirm im Sand-Oldtimer bequem, immer gut ausgestattet mit Trinktütchen, Prinzenrollen-Keksen und Bifis. Ein kleiner Junge mit deutlich alemannischem Dialekt bringt all seinen Kumpels im Auto ein Eis am Stiel mit Schokoladenhaut. Ich schaue mich um: Hinten winken eine Frau und ein Mann, die Eltern des jungen Alemannen, die uns das Eis spendiert haben. Ich winke zurück und bedanke mich. Die genüsslich freigelegten Holzstiele werden selbstverständlich sofort zu Schalthebeln am Armaturenbrett. „Papa, jetzt hat das Auto auch eine Lüftungsanlage!“ Perfekt! Auch die anderen Kinder nennen mich der Einfachheit halber übrigens Papa.

Die obere Schicht des Sandes ist mittlerweile durch die Sonneneinstrahlung getrocknet; das Gefährt hat jetzt eine schicke weiße Farbe, aber wir müssen jetzt immer wieder Ausbesserungsarbeiten vornehmen. Ständig werden Modernisierungen durchgeführt: Ich sehe, dass unser Wagen mittlerweile auch ein kompliziertes Antennensystem besitzt, hinten auf dem Kofferraum entdecke ich einen Benzinkanister, ein echter orangefarbener Kunststoffkanister, den ein Kind am Strand gefunden hat (gottseidank leer, wie ich rasch prüfend feststelle, und schon offenbar lange auf den Weltmeeren unterwegs).

So vergehen weitere Stunden am Strand. Ich habe mich hingelegt, knabbere Kekse und sehe die Kinder in und rund um unser Auto spielen, beobachte sie, wenn sie schwimmen gehen und wieder zurückkommen. Ständig sitzen Kinder am Lenkrad, schalten an den Hebeln, bauen und bessern aus, lachen und unternehmen höchst vergnügt imaginäre Spitztouren. Einige tun so, als springen sie aus dem schnell fahrenden Wagen, und stürzen und kugeln und überschlagen sich dramatisch und darstellerisch perfekt im Sand neben dem Auto und kreischen vor Vergnügen. Auf der Rückbank stehen zwei Eimer mit Wasser, darin Krebse und kleine Fische, die von den ständig wechselnden Fahrgästen bestaunt und begutachtet werden.

Irgendwann fällt mein Blick wieder auf den Sandberg, wo vorhin die Kids waren, die zu uns herüberstarrten, aber nicht herüberkommen wollten. Ich staune: Noch immer sind diese Kids da, lassen das Sandauto nicht aus den Augen, tuscheln, deuten herüber, ducken sich, starren, tuscheln, ducken sich, mittendrin der kleine Krauskopf. Ich richte mich auf. Kann doch nicht wahr sein, denke ich. Die müssen doch da jetzt seit Stunden hocken. Tun nix und gucken nur zum Sandauto. Worauf warten die denn?

Die Kinder im Sandauto, unsere Kinder und all ihre neuen Freunde, beachten die Kids hinter dem Sandhaufen gar nicht. Mittlerweile wird der Strand leerer, und immer mehr Kinder aus unserem Bautrupp kommen zu mir und verabschieden sich. „Seid ihr morgen wieder da?“, werde ich auf Französisch, Englisch, Holländisch und in den verschiedensten deutschen Dialekten gefragt. „Klar!“, sage ich, „morgen bauen wir wieder etwas Neues.“ Einige Eltern winken mir beim Gehen zum Abschied freundlich zu.

Bald wollen auch wir aufbrechen. Wir, die Eltern, bauen routiniert den Sonnenschutz ab, sammeln die nasse Badekleidung ein, schlagen die Handtücher aus, tragen den Müll zu den Tonnen, sortieren Schuhwerk und die Rucksäcke der Kinder. Benedikt hat das Sandauto verlassen und rollt die Schnüre seiner Lenkdrachen auf. Auch Anna kommt zu uns herüber ins Lager; in ihrem Gefolge ein Pulk lachender und erzählender Mädels, die sich nun von uns verabschieden und deren Familien schon auf sie warten. Die etwas älteren Mädchen tauschen Adressen aus.

Kaum hat Anna unser Lager erreicht, erheben sich hinter dem Sandberg einige der dort immer noch wartenden Kids und stürmen auf unser Auto zu, doch dann halten sie auf halbem Weg inne, weil sie den kleinen Laurenz entdeckt haben, der sich noch im Auto befindet, eingerollt in sein gelbes Lieblingshandtuch mit dem großen Winnie the Pooh darauf: Sofort verkrümeln sie sich wieder hinter ihrem Sandhaufen.

Wir haben alles eingepackt, die Rucksäcke stehen bereit: Fehlt nur noch der kleine Laurenz – und das Spielzeug muss noch eingesammelt werden. Wir gehen zum Sandauto. Laurenz wird zumindest teilweise entsandet und dann angezogen, ich sammele mit Benny und Anna die Förmchen, Schaufeln, Eimer usw. ein. Benny klopft eine Seitenwand fest, die abgerutscht war, als Laurenz darüber geklettert ist.

Dann ziehen wir los in Richtung des Dünenaufgangs. Wir schauen uns um und sehen den Strand und mittendrin unser Sandauto in der sich senkenden Spätnachmittagssonne leuchten.

„Darf ich morgen wieder in unserem Sandauto spielen?“, fragt der kleine Laurenz, als wir den Holzdielenweg erreichen, über den man das letzte Stück Strand bis zum Dünenaufgang angenehmer gehen kann, besonders, wenn man so beladen ist wie wir. „Ja, klar, wenn das Auto dann noch da ist“, sage ich und wende mich wieder um.

Und sehe, dass die Kids langsam hinter ihrem Sandberg hervorkommen, uns dabei nicht aus den Augen lassen, uns, die wir nun fast schon den Dünenaufgang erreicht haben. „Aha“, sage ich, „jetzt wollen die mit dem Auto spielen. Hätten sie aber doch viel eher haben können…“

Auch Benedikt schaut sich um und beobachtet die Kids. „Papa, ich glaube, die wollen gar nicht spielen. Guck mal.“

Wir stehen auf der Holztreppe zum Dünenweg und sehen, wie sich die Kids auf das Sandauto stürzen, immer wieder darauf springen, auf die Seitenwände eintrampeln und mit staksigen Beinbewegungen auf den Berg eintreten, der die Motorhaube darstellt. Der kleine Junge mit dem krausen Haar tritt wie besessen auf die Sandberge ein. Die langen dünnen Holzgerten, unsere Antennen, werden geknickt, und einer der Kids kickt den orangefarbenen Kanister mit dem Fuß vom Kofferraumhügel.

Benedikt und Anna beobachten fassungslos das Geschehen: „Mein Gott, was sind das für blöde Ärsche!“ Laurenz hat die Aufgangstreppe schon überwunden und bekommt nicht mehr mit, wie unser Auto zerstört wird. Doch schon bald lassen die Kids von ihrem Zerstörungswerk ab und laufen in verschiedene Richtungen davon. Die Grundform des Autos bleibt aber noch zu erkennen, der konnten sie nichts anhaben: Geht eben nix über solide massive Sandbauweise, gelernt ist gelernt, denke ich, und massiere meinen rechten Oberarm und Schulterpartie.

Auf dem Weg zum Auto betiteln Benny und Anna die Kids mit Attributen, die sich der schriftlichen Darstellung verweigern. „Lasst gut sein“, sage ich zu ihnen. „Ich habe diese Kids seit heute Nachmittag beobachtet.“

„Ja, und?“, fragt Benny wütend.

„Sie haben da stundenlang gesessen und gewartet, dass ihr endlich aus dem Auto geht, eure Sachen packt und vom Strand verschwindet. Die haben da endlos gewartet und gewartet …“

„… dass sie unser Auto kaputt machen können?“, fragt Anna ungläubig.

„Ja. Seht ihr, ihr habt den ganzen Tag mit all den vielen Kindern an diesem Auto gebaut, ihr habt dabei viele andere Kinder kennengelernt und habt mit denen gebaut, gesprochen und den ganzen Tag gespielt. Und das haben diese Kids da beobachtet.“

„Diese blöden Typen da…“, Benny deutet mit den Daumen zurück, „du willst mir doch nicht erzählen, dass die die ganze Zeit nur gewartet haben, bis wir gehen, damit sie unser Auto kaputt machen können?“

„Doch, die haben wirklich nur die ganze lange Zeit da rumgesessen, haben nix getan, nicht gespielt, nix gebaut – sie haben sich hinter ihrem Sandhügel versteckt und nur darauf gelauert, dass ihr endlich verschwindet, stundenlang. Und wenn nicht immer mindestens einer von euch oder den anderen Kindern im Auto gesessen und dort gespielt hätte oder wenn da nicht immer all die Spaziergänger vorbeigekommen wären, die alle euer Auto bestaunt haben, dann hätten diese Kids vielleicht schon das Auto viel früher kaputtmachen können. Also haben die heute ihre ganze Zeit am Strand mit Warten verbracht!“

„Total bescheuert“, schnaubt Benny.

„Das ist nun mal so. Nicht nur am Strand. Es gibt Menschen, die zusammen mit anderen etwas beginnen, schaffen, entwickeln; und es gibt andere Menschen, die nur zugucken, nix Eigenes tun, aber dabei diejenigen ständig beobachten und beäugen, die etwas tun und schaffen. Sie haben da ewig gewartet, euer Sandauto beobachtet, wie es immer größer und besser wurde. Und darüber geflüstert, getuschelt und sich heißgeredet. Nur um sich dann irgendwann wie Kuckucke in gemachte Nester zu setzen. Also, etwas, was andere geschaffen haben, übernehmen wollen – aber letztlich doch nur alles kaputtmachen oder kaputtmachen wollen.“

„Weil sie neidisch sind?“, fragt Anna.

„Ja, vielleicht aus Neid. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das nur Neid ist. Sie haben uns beobachtet und haben erstens gesehen, dass wir etwas tun, was uns und den anderen Kindern großen Spaß macht. Und zweitens sehen sie dann, dass etliche Leute stehen bleiben und das Sandauto bewundern. Das sind gleich zwei Punkte, die ihnen offenbar nicht gepasst haben: der Spaß an der Sache selbst, aber auch, dass die fertige Sache, das Ergebnis also, anderen Leuten gefallen hat. Wenn sie darauf neidisch sind, dann kann ihnen die bloße Zerstörung des Autos da keine rechte Freude gemacht haben. Hat ja kaum einer mitgekriegt, die meisten Leute sind ja schon weg. Dieses Zerstörenmüssen – das ist nicht nur Neid, das mag auch Dummheit und Stumpfheit sein, ganz sicher ist das aber auch Unwille und Unmut über sich selbst, weil sie erkennen, dass sie selbst heute nichts getan haben und es auch gar nicht versucht haben. Und auch darüber, dass sie keine anderen Kinder für irgendwas begeistern konnten, so wie ihr das getan habt: Also Neid – aber auch Frust. Und ich glaube: ziemlich viel Frust über einen verlorenen Tag. Daher musste unser Auto jetzt dran glauben… Und die werden auch morgen nichts tun, sondern wieder nur warten, bis sie irgendwas finden, das sie zerbröseln können…“

„Da waren heute auch noch andere Kinder“, sagt Anna, „die haben nicht bei uns mitgemacht, aber die haben sich unser Auto angeguckt und haben dann versucht, eigene Sandautos zu bauen. Fand ich auch blöd.“

„Nein, das ist völlig in Ordnung! Es gibt viele andere Möglichkeiten, Autos aus Sand zu bauen, große, kleine, alte Autos, ganz moderne Autos. Die Frage ist dann nur, ob sie durchhalten. Wäre doch ganz lustig gewesen, wenn nun alle möglichen Leute die Idee aufgreifen und am Strand lauter Autos bauen. Platz ist ja genug. Einige haben da recht lange durchgehalten, die meisten haben schon sehr bald wieder aufgegeben, auch deshalb, weil sie plötzlich merkten, wie viel Arbeit das alles ist; reicht ja nicht, mal eben ein bisschen Sand aufzuhäufen: Wir haben den Sand aufgehäuft, immer wieder geklopft, Wasser geholt, nass gemacht, neu aufgehäuft, wieder festgeklopft und so weiter. Wir waren ja auch mehr Leute, von Anfang an, als noch keiner wusste, wie unser Auto mal fertig aussehen würde, und wir waren ja auch schon viel länger dran, als die anderen sahen, was wir da tun, und dann auf den Trichter kamen, selbst ein Auto zu bauen.“

„Trotzdem nur Nachmacher!“, schnaubt Benny verächtlich. Wir erreichen den Parkplatz und laden unsere Taschen und Rucksäcke ins Auto.

„Nicht schlimm! Ihr habt denen gezeigt, dass man auch mal was anderes aus Sand bauen kann als immer nur Burgen, Sandhügel mit Tunnels und so weiter – also das, was alle immer bauen im Sand am Strand. Und das hat die angesteckt, auch mal etwas Eigenes zu machen. Auch wenn’s erstmal wieder nur ein Sandauto ist. Guckt mal, hier an diesem riesigen Strand – da kann man doch alles bauen. Vielleicht baut ja einer von denen morgen mal ein Flugzeug oder eine Lok, oder einen ganzen Eisenbahnzug aus Sand.“

„Au ja, lass uns morgen mal ein Flugzeug bauen!“, ruft Laurenz vom Rücksitz und klatscht begeistert in die Hände.

„Das machen wir“, sage ich, starte den Wagen und fahre los.

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blublöublui